Die Methode der verteilten Verantwortung beim Essen

Es gibt verschiedene Ansätze problematisches Essverhalten zu Beenden. Im letzten Artikel habe ich einige mögliche Ursachen beschrieben die durch eine Therapie oder Arzneien beseitigt werden können. Leider ist es oft so dass das problematische Essverhalten noch eine ganze Weile bestehen bleibt. Alle Eltern wollen aber ihrem Kind helfen die Palette an Lebensmitteln die es isst möglichst zu vergrößern und besonders auch gesundes kennen und lieben zu lernen. Der traditionelle Weg geht oft über Druck, Erpressung, Bestechung und ähnliche Taktiken. Man kann es aber auch anders versuchen. Diese Methode verteilt die Verantwortung zwischen Eltern und Kindern. Damit wird gleichzeitig auch der Druck vom Kind genommen und auch die Basis für einen Machtkampf verschwindet. 

Die Methode der Verteilung der Verantwortung klingt irgendwie wissenschaftlich, ist es aber in Wahrheit eigentlich gar nicht. Viele von uns verwenden sie in einer oder anderer Form sowieso schon zu Hause. Erfunden, oder besser gesagt definiert unter diesem Namen hat sie Ellyn Satter, Ernährungsberaterin und Familientherapeutin. Bei ihr heißt die Methode DOR – Division of Responsibility – übersetzt eben Verteilung der Verantwortung.

Dabei sind die Eltern dafür verantwortlich WAS, WANN und WO es etwas zu essen gibt, die Kinder dafür OB und WIE VIEL sie essen. Übersetzt heißt das dass Eltern entscheiden WAS sie bei einer Mahlzeit anbieten, dabei aber bedenken was die Familienmitglieder essen (können/mögen). Weiter entscheiden sie WANN es Essen gibt beziehungsweise WO gegessen wird. Empfohlen wird dass es 3 Hauptmahlzeiten gibt und 2 bis 4 Snacks, je nach Alter der Kinder und der Schlafenszeit (kleinere Kinder brauchen oft alle 2 bis 3 Stunden etwas zu essen, größere ungefähr alle 3 bis 4 Stunden). Der Ablauf könnte daher sein Frühstück – Snack – Mittagessen – Snack – Abendessen. Dazwischen sollte es kein Essen geben, keine Kleinigkeiten und auch keine Getränke außer Wasser. Die Mahlzeiten sollten wann immer möglich als Familienmahlzeiten statt finden – das heißt alle Familienmitglieder (die zu der Zeit dabei sind) sollten mit Essen, möglichst immer am Tisch (also kein Hinterherrennen mit dem Essen). Das Essen wird so aufgetischt dass die Kinder sich nehmen können was und wie viel sie wollen (kleineren wird natürlich geholfen), sie aber alles Essen sehen – egal ob sie es mögen oder nicht. Das Kind entscheidet was es von den angebotenen Lebensmitteln isst und auch wie viel. Es wird nicht überredet, gedroht und auch nicht manchen Lebensmitteln ein höherer Stellenwert eingeräumt – zum Beispiel dem Nachtisch.

Und das ist das schwierige daran – man muss dem Kind vertrauen. Man muss loslassen können. Die Sache mit dem Nachtisch, zum Beispiel, ist das erste wogegen sich die meisten Eltern sträuben. Wie jetzt, es gibt immer Nachtisch? Einige Therapeuten sagen sogar man soll den Nachtisch gleichzeitig mit dem Hauptgang servieren und die Reihenfolge in der gegessen wird nicht bestimmen. In dem man den Nachtisch auf eine höhere Treppe als den Hauptgang stellt, in dem man ihn zur Belohnung macht, lernen die Kinder – ich muss erst was nicht leckeres/ekliges essen, um zu dem wirklich guten Teil zu kommen. Interessant ist dass Leute die dies probieren bemerken dass die Kinder am Anfang natürlich den Nachtisch bevorzugen und zu erst Essen, sich dies aber nach einigen Tagen/Wochen wieder legt und kein Thema mehr ist. Erwähnt sei auch – Nachtisch heißt nicht automatisch etwas ungesundes oder sehr süßes, auch einfaches Obst, Trauben und Käse oder ähnliches ist durchaus ein guter Nachtisch. Die Voraussetzung ist dass immer ein oder zwei Lebensmittel dabei sind die auch das wählerische Kind isst und davon auch Satt werden kann. Das kann dann Brot sein, oder Nudeln/Reis/Kartoffeln oder Cräcker, Jogurt, Quark oder Käse, Fleischstückchen, eine Cremesuppe oder was auch immer. Wenn das Kind dann am Essen rummeckert sagt man einfach – du musst es nicht essen. Es muss aber trotzdem nicht hungern – es hat ja etwas von seinen sicheren Lebensmitteln da. Dadurch entfällt der Machtkampf.

Kinder die besonders auf süßes stehen, sind manchmal so darauf fixiert weil der Süßigkeitenkonsum sehr eingeschränkt wird. Dies hat ja auch Sinn, sie sollen sich ja nicht nur an der Schokolade oder den Keksen satt essen . Aber – man könnte in diesem Fall einen Tag jede Woche oder alle 2 Wochen einführen wo man in der Snackzeit Süßes anbietet ohne Mengenbegrenzung – so lange sie sitzen bleiben. Stehen sie auf ist der Snack vorbei. Wir haben es zu Hause probiert, das erste mal konnten sie es noch gar nicht glauben, haben reingehauen dass ich dachte ihnen wird bestimmt schlecht. Aber mittlerweile hat es sich gelegt – nach 3 oder 4 mal essen sie jetzt eine etwas größere Portion süßes und gehen dann weiter spielen. Es ist nicht mehr “was verbotenes” dran und sie merken – aha, danach bin ich aber recht schnell wieder hungrig, aber bis zur nächsten Mahlzeit ist ja noch ‘ne ganze Weile Zeit…

Hinzu kommt noch die Empfehlung dass man nicht direkt über das Essen spricht und auch nicht bewertet wie gut oder wie viel jemand gegessen hat. Uns Erwachsenen würde nie einfallen einem anderen Erwachsenen (dem Mann, der Oma oder den Kollegen) zu sagen “Ja du hasst aber toll gegessen heute!” und doch ist es im Umgang mit Kindern gang und gebe. Auch die Phrase “Du bist aber ein braver, hast so viel gegessen” sollte man sich verkneifen. Das Kind denkt schnell dass es nicht gut genug ist wenn es nicht viel isst oder nicht das richtige, es hilft ihm also wenig sein Problem zu besiegen. Wenn es könnte würde es sicher viel mehr oder abwechslungsreicher essen. Man redet also, wenn überhaupt über das Essen, dann darüber dass es lecker, knackig, cremig, deftig oder süß ist – also über die Eigenschaften. Nicht darüber ob es sooo gesund ist – denn das hilft oft auch nicht, sondern ist eher ein Konterargument für viele Kinder (wenn es gesund ist – kann es nicht lecker sein).  Man erzählt über den Tag, was man so erlebt hat, man hat eine schöne Zeit zusammen am Tisch. Damit schafft man Sicherheit und verbindet das Essen mit schönen Erlebnissen, mit Familienzeit – anstatt mit Machtkampf.

Ganz abseits von der eigentlichen Mahlzeit kann man die Gelegenheit nutzen das Kind mit Essen spielen zu lassen, damit es das ganze erforschen kann – daran riechen, es zerquetschen, es zu fühlen, vielleicht auch (heimlich) daran zu lecken. Wenn es irgendwie geht sollte das Kind so oft wie möglich in der Küche mithelfen dürfen – waschen, schnippeln, mischen, mixen… Ob es dabei etwas probiert ist unwichtig, es ist auch schon ein enormer Fortschritt wenn es ein neues Lebensmittel anfasst, daran riecht – einfach damit Erfahrungen sammelt.

Man sollte von dieser Herangehensweise nicht erwarten dass sie über Nacht erfolge bringt. Kinder sind in der Regel misstrauisch, werden das ganze erst mal testen (mal sehen ob ich 10 Minuten nach der Mahlzeit trotzdem was raus schlagen kann). Aber erst einmal ist der Druck weg, wie von den Kindern so auch von den Eltern. Viele Eltern die als Kinder wählerisch waren (es ist übrigens eine Neigung dazu vererbbar), berichten dass sie erst als Erwachsene ihr Repertoire erweitert haben – als ihnen keiner mehr vorschriften machte was sie essen müssen/sollen/dürfen und wie viel. Erst wenn die Sicherheit da ist dass man immer satt wird, kann der Forscherdrang kommen und neues gelernt werden.